Am 12.09.2018 hat der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V. in der Bundespressekonferenz bekannt gegeben, dass er in Kooperation mit dem ADAC über die R|U|S|S Litigation Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, an der die Rechtsanwälte Dr. Ralf Stoll, Ralph Sauer, Prof. Dr. Marco Rogert und Tobias Ulbrich beteiligt sind, am 01.11.2018 eine Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht Braunschweig gegen die Volkswagen AG wegen Softwaremanipulation einreichen wird.
Die Volkswagen AG hat kurz darauf ebenfalls eine Stellungnahme zu der geplanten Musterfeststellungsklage abgegeben. Der Presse war beispielsweise die folgende Aussage zu entnehmen:
„Volkswagen sieht wenig Aussichten für die Klagen. "Das Instrument der Musterfeststellungsklage ändert nichts an unserer Position: Es gibt keine Rechtsgrundlage für kundenseitige Klagen im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik in Deutschland", teilte der Autobauer mit. Schon heute blieben die Klagen von Kunden vor Landgerichten überwiegend erfolglos. Es gebe zudem zwölf Urteile von Oberlandesgerichten, die im Sinne von Volkswagen beziehungsweise im Sinne der Händler ausgefallen seien.“ (Manager Magazin online vom 13.09.2018, BILD online vom 12.09.2018; ähnlich DIE WELT online vom 12.09.2018)
Es steht der Volkswagen AG frei, eine eigene Rechtsansicht dahingehend zu äußern, dass nach ihrer Ansicht keine Rechtsgrundlage für Ansprüche gegeben sei. Sollte die Volkswagen AG tatsächlich die Aussage getroffen haben, dass es 12 Oberlandesgerichtsurteile gebe, die im Sinne der Händler bzw. der Volkswagen AG ergangen seien, versucht die Volkswagen AG in der Öffentlichkeit ein falsches Bild der Rechtsprechung zu zeichnen. Offensichtlich soll der Öffentlichkeit suggeriert werden, die Musterfeststellungsklage habe keine Aussicht auf Erfolg. Betrachtet man sich jedoch die 12 Urteile der Oberlandesgerichte näher, wird schnell deutlich, dass diese nicht im Ansatz etwas zu tun haben mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage. Gegenstand der Musterfeststellungsklage wird sein, eine Schadensersatzverpflichtung der Volkswagen AG aufgrund einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung, aufgrund eines Verstoßes gegen das europäische Typengenehmigungsrecht und aufgrund eines Betruges feststellen zu lassen. Gegenstand der Musterfeststellungsklage werden hingegen nicht die einzelnen Kaufverträge über die Fahrzeuge mit den Händlern sein.
Rechtsanwalt Dr. Ralf Stoll hat die Aussagen der Volkswagen AG und insbesondere die genannten 12 Urteile der Oberlandesgerichte näher untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass keines der 12 Urteile etwas mit den Ansprüchen gegen die Volkswagen AG zu tun hat, welche Gegenstand der Musterfeststellungsklage sein werden. Die Volkswagen AG bezieht sich bei ihrer Aussage auf die folgenden Urteile:
Urteil des OLG München, 21 U 4818/16
Urteil des OLG Nürnberg, 6 U 409/17
Urteil des OLG Koblenz, 1 U 302/17
Urteil des OLG Schleswig, 9 U 57/16
Urteil des OLG Hamm, I -28 U 182/16
Urteil des OLG Dresden, 10 U 1561/17
Urteil des OLG Dresden, 9 U 241/17
Urteil des OLG Brandenburg, 2 U 39/16
Urteil des OLG Stuttgart, 2 U 60/17
Urteil des OLG Stuttgart, 12 U 64/17
Urteil des OLG Frankfurt, 25 U 17/18
Urteil des Thüringer OLG Jena, 7 U 721/17
Rechtsanwalt Dr. Ralf Stoll hat die Urteile im Einzelnen untersucht mit den folgenden Ergebnissen:
1. OLG München, 21 U 4818/16
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG. In diesem Fall begehrte ein Kläger die Rückabwicklung eines Kaufvertrages über ein gebrauchtes Kraftfahrzeug. Das Fahrzeug wurde von einem Händler und nicht von der Volkswagen AG gekauft. Der Kläger hatte den Kaufvertrag angefochten.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich der Kaufvertrag mit dem Händler und nicht das Handeln der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
2. OLG Nürnberg, 6 U 409/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG. In diesem Fall begehrte ein Kläger die Rückabwicklung eines Kaufvertrages über ein neues Fahrzeug. Das Fahrzeug wurde von einem Händler und nicht von der Volkswagen AG gekauft.
Das Oberlandesgericht Nürnberg stellte fest, dass das Fahrzeug mit einem erheblichen Mangel behaftet ist. Der Rücktrittsanspruch des Klägers scheiterte lediglich daran, dass er dem Händler keine angemessene Frist zur Nachbesserung eingeräumt hat.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich der Rücktritt vom Kaufvertrag mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
3. OLG Koblenz, 1 U 302/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG. In diesem Fall begehrte eine Klägerin aus einer gegenüber dem Händler erklärten Anfechtung eines Pkw Kaufvertrages die Rückzahlung des Kaufpreises.
Das Oberlandesgericht Koblenz stellte fest, dass der Händler selbst keine arglistige Täuschung begangen habe und dieser sich eine Täuschung der Volkswagen AG nicht zurechnen lassen muss.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich die Anfechtung des Kaufvertrages mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
4. OLG Schleswig-Holstein, 9 U 57/16
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG aufgrund eines Betruges oder einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Gegenstand des Verfahrens war vielmehr der Kaufvertrag über das Fahrzeug. In diesem Fall begehrte der Kläger die Feststellung, dass die Beklagte als Verkäuferin des Fahrzeugs verpflichtet ist, entsprechende Mängel am Fahrzeug im Wege der Gewährleistung zu beseitigen und Schadensersatz zu leisten. Das Oberlandesgericht wies die Klage als unzulässig ab, weil der Händler einen Verjährungsverzicht erklärte.
Gegenstand dieses Verfahrens waren also lediglich das Mängelgewährleistungsrecht aus dem mit dem Händler geschlossenen Kaufvertrag und Schadensersatzansprüche gegenüber dem Händler aus der Verletzung des Kaufvertrages. Eine mögliche vorsätzliche sittenwidrige Schädigung oder ein Schadensersatzanspruch wegen Betruges durch die Volkswagen AG war hingegen nicht Gegenstand des Verfahrens. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
5. OLG Hamm, I-28 U 182/16
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG, sondern gegen einen Vertragshändler, von dem der Kläger die Rückabwicklung des Kaufvertrages verlangte. Vor der mündlichen Verhandlung hat der Händler den geforderten Betrag an den Kläger bezahlt. Deshalb war nicht mehr über die Hauptforderung zu streiten.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich der Rücktritt vom Kaufvertrag mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
6. OLG Dresden, 10 U 1561/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG, sondern gegen einen Händler, von dem der Kläger aus dem geschlossenen Kaufvertrag eine Minderung des Kaufpreises begehrt. Der Kläger hat das Update aufspielen lassen und begehrte dennoch einen Minderbetrag, weil der Mangel durch das Softwareupdate nicht behoben worden sei.
Das Oberlandesgericht wies die Klage ab, weil der Kläger seiner Darlegungslast nicht nachgekommen sei.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich die Minderung aus dem Kaufvertrag mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
7. OLG Dresden, 9 U 241/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG, sondern gegen einen Händler, der dem Kläger das Fahrzeug verkauft hatte. Gegenstand des Verfahrens war eine Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung. Das Oberlandesgericht wies die Klage deshalb ab, weil der Händler sich eine mögliche Täuschung der Volkswagen AG nicht zurechnen lassen muss.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich die Anfechtung des Kaufvertrages mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
8. OLG Brandenburg, 2 U 39/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG, sondern gegen einen Händler, der dem Kläger das Fahrzeug verkauft hatte. Gegenstand des Verfahrens waren eine Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung und Gewährleistungsrechte aus dem Kaufrecht gegenüber dem Händler. Das Oberlandesgericht wies die Klage deshalb ab, weil der Händler sich eine mögliche Täuschung der Volkswagen AG nicht zurechnen lassen muss. Die Gewährleistungsrechte gegenüber dem Händler waren verjährt.
Gegenstand dieses Verfahrens waren also lediglich die Anfechtung des Kaufvertrages und Gewährleistungsrechte mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
9. OLG Stuttgart, 2 U 60/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG aufgrund eines Betruges oder einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung. Der Kläger begehrte in diesem Verfahren vielmehr die Rückabwicklung des geschlossenen Kaufvertrages über das Fahrzeug.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich der Rücktritt vom Kaufvertrag mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
10. OLG Stuttgart, 12 U 64/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG. Der Kläger verlangte von einem Vertragshändler die Rückabwicklung eines Kaufvertrages aufgrund einer Anfechtung des Kaufvertrags. Das Oberlandesgericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass sich der Händler das Verhalten der Volkswagen AG nicht zurechnen lassen müsse. Auch ein Schadensersatzanspruch gegenüber dem Händler bestehe nicht, weil dieser sich ein Fehlverhalten der Volkswagen AG nicht zurechnen lassen müsse.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich die Anfechtung des Kaufvertrages mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
11. OLG Frankfurt, 25 U 17/18
An diesem Verfahren ist die Volkswagen AG nicht beteiligt. Es handelt sich um eine Klage gegen einen Händler. Gegenstand ist nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
12. Thüringer OLG Jena, 7 U 721/17
Das Verfahren richtete sich nicht gegen die Volkswagen AG. Der Kläger nahm einen Händler aus dem geschlossenen Kaufvertrag auf Neulieferung eines nicht manipulierten Fahrzeugs in Anspruch. Das Oberlandesgericht wies die Klage deshalb ab, weil die Nachlieferung unmöglich sei. Das neue Modell entspreche nicht dem ursprünglich gekauften Modell.
Gegenstand dieses Verfahrens war also lediglich eine Neulieferung aus dem geschlossenen Kaufvertrag mit dem Händler und nicht ein Betrug oder eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Volkswagen AG. Mit dem Inhalt der Musterfeststellungsklage hat dieses Verfahren nichts zu tun.
Zwischenfazit: es ist folglich festzustellen, dass sich alle Entscheidungen, auf die sich die Volkswagen AG offensichtlich bezieht, nichts mit den Zielen der Musterfeststellungsklage zu tun haben. Vielmehr geht es in den genannten Entscheidungen ausschließlich um Ansprüche aus den geschlossenen Kaufverträgen, die nicht Gegenstand der Musterfeststellungsklage sein werden. Es ist zwar richtig, wenn VW mitteilt, die oberlandesgerichtlichen Verfahren seien in ihrem Sinne ausgegangen, wenn damit jedoch suggeriert werden soll, dass VW selbst diese Klageverfahren gewonnen hätten, ist dies falsch. Es gibt bundesweit kein Oberlandesgericht, welches im Rahmen eines substantiierten Vortrags die Klage gegen die Volkswagen AG wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung, wegen Betrugs oder wegen Verstoßes gegen das Typengenehmigungsrecht abgewiesen hat.
Es gibt hingegen bei verschiedenen Oberlandesgerichten Tendenzen dazu, die Volkswagen AG aufgrund einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung oder aufgrund eines Verstoßes gegen europäisches Typengenehmigungsrecht zu verurteilen.
Das OLG Oldenburg, 2 U 9/18 hat folgenden Hinweis zu einer möglichen Haftung von VW erteilt:
„(…) weist der Senat in Vorbereitung auf die anstehende mündliche Verhandlung darauf hin, dass der Senat bei derzeitiger Würdigung des Sachs-und Streitstandes davon ausgeht, dass das Landgericht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 826 BGB zu Recht bejaht hat.“
Mit anderen Worten: Auch das OLG Oldenburg geht von einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung des Volkwagen Konzerns aus.
Das OLG Karlsruhe, 13 U 17/18 sieht es ähnlich:
„(…) im Hinblick darauf, dass zahlreiche der eingelegten Berufungen und Klagen in den „Dieselfällen“ nach außergerichtlichen Einigungen zurückgenommen worden sind (..) hat der Senat bisher von einer Terminierung in den Dieselfällen“ abgesehen. (…) Nach vorläufiger Rechtsauffassung des Senats spricht auch deutlich mehr für die Haftung der VW AG auf Schadensersatz nach § 826 BGB als dagegen.“
Zwei Oberlandesgerichte gehen also von der Begründetheit der Ansprüche wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung aus. Es gibt hingegen kein Oberlandesgericht, welches die Ansprüche abweisen möchte.
Das OLG München, 8 U 1706/17 geht von einem Verstoß gegen das europäische Typengenehmigungsrecht aus:
„Der Vorsitzende hält zumindest eine Haftung aus § 311 Abs. 2 und 3 BGB derzeit für gut diskutierbar und gibt zu bedenken, dass viele Käufer sich vor dem Erwerb eines Autos anhand der Herstellerangaben im Internet oder aus einem gedruckten Prospekt oder die technischen Daten eines Autos Informieren. Für einige Erwerber sind dabei auch die Abgaswerte kaufentscheidend.“
Fazit: Es ist somit festzustellen, dass die Volkswagen AG offensichtlich versucht in der Öffentlichkeit ein falsches Bild zu zeichnen. Es soll suggeriert werden, dass es in Deutschland keinen Rechtsanspruch auf Schadensersatz gibt und zahlreiche Oberlandesgerichte dies bestätigen. Herangezogen werden dabei Urteile, die mit den deliktischen Ansprüchen gegenüber VW nichts zu tun haben. Der genaue Inhalt der Urteile wird verschwiegen. Durch geschickte Formulierungen und Mitteilungen an die Presse, die nicht falsch sind, wird versucht, die Geschädigten von der Geltendmachung ihrer Rechte abzuhalten. Es gibt drei Oberlandesgerichte die Ansprüche gegen die Volkswagen AG für gegeben erachten, jedoch kein Oberlandesgericht, welches die Ansprüche als nicht gegeben ansieht. Auch geht erstinstanzlich eine klare Tendenz dazu, die Volkswagen AG zu verurteilen. Es kann daher nicht die Rede davon sein, dass den Geschädigten angeblich kein Rechtsanspruch zusteht. Es ist vielmehr zu erwarten, dass gerade die Obergerichte die Volkswagen AG zu Schadensersatz verurteilen werden.